Überleben unter Palmen aus Stahl
07.10.2025 | UNHOME – Eine VR-Experience von GoBanyo und der Curious Company
In Großstädten wie Hamburg ist Obdachlosigkeit oft allgegenwärtig: In der Bahn wird vielerorts nach Kleingeld oder Essen gefragt und Schlafsäcke säumen belebte Einkaufsstraßen. Trotzdem gelingt es vielen Stadtbewohner*innen, diese Realität auszublenden. Die VR-Experience UNHOME möchte das ändern, indem sie Nutzer*innen für fünfzehn Minuten in die Perspektive obdachloser Menschen versetzt. Ab dem 7. Oktober ist die Experience kostenfrei im Meta Quest Store erhältlich
Von Sainabu Fye
Es beginnt in der eigenen Wohnung, in der noch alles in Ordnung scheint. Dann kommt es schlagartig: Jobverlust, sich stapelnde Rechnungen, kein Geld – plötzlich gibt es kein Zuhause mehr. Und obwohl man unter der VR-Brille mit dem Controller seine virtuelle Hand ausstrecken, greifen und Entscheidungen treffen kann, ist man dem weiteren Verlauf seines Schicksals machtlos ausgeliefert.

Mithilfe der virtuellen Realität möchte die Initiative GoBanyo genau dorthin vordringen, wo Obdachlosigkeit oft unsichtbar bleibt: ins Bewusstsein der Gesellschaft. Gemeinsam mit der Curious Company, einer Hamburger Produktionsfirma für immersive Medien, entstand so das Projekt „UNHOME – Überleben auf der Straße“. Die VR-Brille ermöglicht einen unmittelbaren Perspektivwechsel, indem Nutzer*innen die Geschichte aus den Augen eines Betroffenen erleben: „Ich sitze selber in meiner Wohnung, die ich aus Gründen verliere. Ich muss selber auf der Straße nach Geld fragen oder mich um Nahrung kümmern – und lerne vielleicht auch, warum es gar nicht so einfach ist, dann wieder aus der Obdachlosigkeit herauszukommen.“ (Chris Poelmann, Mitbegründer von GoBanyo)
„Waschen ist Würde“ – der Duschbus von GoBanyo
Seit 2019 macht die Hamburger Initiative GoBanyo mit dem Slogan auf sich aufmerksam. Sichtbar wird sie vor allem in Form eines ehemaligen Linienbusses, bunt bemalt und innen zu einem mobilen Badezimmer umgebaut. Hier können obdachlose Menschen kostenlos duschen. Einer der Gründer, Dominik Bloh, lebte elf Jahre auf Hamburgs Straßen. Wie stark Selbstwertgefühl von Hygiene abhängt beschreibt er in seinem Buch „Unter Palmen aus Stahl – Die Geschichte eines Straßenjungen“. Der Duschbus ist für viele Bedürftige somit nicht nur physische, sondern auch mentale Stütze. Doch Obdachlosigkeit ist ein Thema, das auch die erreichen muss, die selbst nie im Duschbus stehen: „Um gesellschaftlich gut mit der Herausforderung Obdach- und Wohnungslosigkeit umgehen zu können, braucht es Verständnis und Nachvollziehbarkeit“, sagt Chris Poelmann, Mitbegründer von GoBanyo.
Realitätsnahe Umsetzung
Doch wie bringt man Erfahrungen, die sonst kaum Gehör finden, in eine virtuelle Welt? Für GoBanyo bedeutete das eine intensive Recherche- und Konzeptionsphase, in der ein wertschätzender Umgang mit den Menschen auf der Straße an erster Stelle stand. Dominik Bloh brachte Erfahrungen aus erster Hand ein, zudem flossen Eindrücke von Duschgästen sowie der Austausch mit Sozialarbeitenden und Streetworkern ein. Poelmann vergleicht die Herangehensweise gerne mit einem Kaffeefilter „wo alle Erfahrungen reingekommen sind. Und die Essenz daraus ist das, was in der VR gezeigt wird: eine exemplarische Geschichte, die zeigt, wie Menschen auf der Straße landen und welche Herausforderungen sie bewältigen müssen.” Das Storytelling scheint damit den Nerv gut getroffen zu haben: „Unsere Duschgäste haben uns gespiegelt, dass das alles sehr nah an der Realität ist."


Realitätsnah sind auch die Schauplätze von UNHOME. Ob Park Fiction, Sternbrücke oder die S1 Richtung Wedel: die VR-Erfahrung verortet Obdachlosigkeit an Orten, die Hamburger*innen kennen.
Eine besondere technische Herausforderung lag in der Hardware: Die VR-Erfahrung läuft auf der Meta Quest VR-Brille, deren Prozessor etwa so leistungsfähig ist wie der eines Smartphones. Deshalb musste bei jeder Szene abgewogen werden, wie detailliert die Umgebung dargestellt werden kann – und das ganz ohne zusätzliche Computer, um das Projekt möglichst flexibel einsetzbar zu machen.
Virtual Reality im Klassenzimmer
Auch im Bildungsbereich eröffnet UNHOME neue Perspektiven. Anders als beim bloßen Zuschauen, so Poelmann, ermöglicht die Virtual Reality Jugendlichen ein direktes Erleben – ein Lernen über Emotionen statt nur über den Kopf. Durch die Brille sind sie vollständig auf das Geschehen fokussiert: Ablenkungen von außen fallen weg, und sie müssen sich aktiv mit der Situation auseinandersetzen.
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Poelmann sieht darin ein enormes Potenzial. Denn ähnlich wie bei UNHOME können VR-Erfahrungen auch für andere gesellschaftliche oder berufliche Themen entwickelt werden. Vom Alltag einer Erzieherin oder eines Erziehers in einer Kindergartengruppe bis zu Situationen in der Pflege: Virtual Reality, so ist sich Poelmann sicher, kann zu einem mächtigen Werkzeug werden, um Lernen über Emotionen zu ermöglichen und den Zugang zu komplexen Themen erleichtern.
GoBanyo nutzt dieses Potenzial bereits aktiv: Gemeinsam mit dem Landesinstitut für Qualifizierung und Qualitätsentwicklung in Schulen wurde ein 90-minütiger Workshop für Schulen und Bildungsträger entwickelt. Die wissenschaftliche Begleitung übernahm Prof. Dr. Tim Middendorf von der Hochschule Bielefeld (Fachbereich Sozialwesen). In einer qualitativen Studie untersuchte er, wie die Teilnehmenden die VR-Erfahrung wahrnehmen und welche Wirkung sie auf ihr Verständnis von Obdachlosigkeit hat.
Die Ergebnisse der Untersuchung mit über 100 Teilnehmenden im Alter von 15 bis 56 Jahren zeigen: Die Nutzer*innen entwickeln ein vertieftes Verständnis für die komplexen Lebensrealitäten obdachloser Menschen und reflektieren zugleich eigene Haltungen und Handlungsmöglichkeiten.
Weitere Informationen zu GoBanyo gibt es hier.
Informationen und Lernmaterialien zu UNHOME gibt es hier.
Nach einer sechsmonatigen Testphase in Hamburg ist die VR-Experience UNHOME ab dem 7. Oktober 2025 kostenfrei im Meta Quest Store verfügbar.






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