Der ganz normale Familienwahnsinn
19.02.2024 | Weltpremiere "Sterben" @Berlinale 2024
Ein Familiendrama über das Sterben – klingt erstmal nach ziemlich schwerer Kost. Doch Matthias Glasners neuer Film strotzt nur so vor skurriler, oft komischer, aber auch zutiefst berührender Szenen. Ein starbesetztes Werk mit Lars Eidinger, Corinna Harfourch und Lilith Stangenberg, das unter anderem in Hamburg gedreht wurde und jetzt im Wettbewerb der Berlinale seine Weltpremiere feiert.
Von Daniel Szewczyk
Eigentlich wollte Filmemacher Matthias Glasner mal Dirigent werden. Genauso wie Tom, eine der Hauptfiguren in seinem neuen Film „Sterben“. Dass es dann doch anders gekommen ist, ist für das diesjährige Berlinale-Publikum ein ziemlicher Glücksgriff. Mit „Sterben“ schickt der Regisseur und Drehbuchautor einen dreistündigen Film ins Rennen um den goldenen Bären, der sich zu keiner Zeit nach drei Stunden anfühlt. Lachen, weinen, nachdenklich im Kinosessel versinken – alles drin bei diesem Film. Dabei schrieb Glasner die erste Drehbuchfassung in gerade einmal zwei Monaten: „Ich war kurz vorher Vater geworden und konnte einfach nicht schlafen. Ich habe mich dann jeden Tag rund drei Stunden in einen schäbigen Coffee Shop unter meiner Wohnung gesetzt, um hier kurz durchzuatmen und etwas Zeit für mich zu haben. Und ‚Zeit für mich‘ bedeutet bei mir zumeist: Arbeit“, sagt der gebürtige Hamburger und lacht. Er schrieb einfach drauf los, ohne zu wissen, wo ihn der Prozess hinführt.
In „Sterben“ geht es um die Familie Lunies, die schon lange keinen inneren Zusammenhalt mehr hat. Lissy Lunies, Mitte 70, ist insgeheim froh darüber, dass ihr langsam dahinsiechender, dementer Mann Gerd ins Heim kommt – doch auch sie selbst hat aufgrund diverser Krankheiten nicht mehr lange zu leben. Währenddessen arbeitet ihr Sohn, der Dirigent Tom, mit seinem depressiven besten Freund Bernard an einer Komposition namens „Sterben“. Seine Schwester Ellen beginnt eine Affäre mit einem verheirateten Zahnarzt - beide verbindet die Liebe zum Alkohol und zum Rausch. Mit dem Tod konfrontiert, begegnen die Familienmitglieder sich wieder.
Also der ganz normale Familienwahnsinn – dabei ist vieles im Film autobiographisch: „Es ist die Geschichte über eine Familie, die sich eigentlich nie begegnet, deren Leben nichts miteinander zu tun haben. So war es bei mir auch. Ich wusste also sehr genau, worüber ich da schreibe. Auch das Schicksal der kranken Eltern ist dem meiner Eltern nachempfunden. Wir haben sogar in Hanstedt in der gleichen Gegend gedreht, wo sie gewohnt haben. Und das Heim, in das der Vater kommt, ist genau das Heim, in dem mein Vater vor seinem Tod ebenfalls war“, verrät Glasner.
Eine weitere Parallele zu seinem Leben: Die Musik. Das Stück „Sterben“, das im Film Dirigent Tom und Komponist Bernard gemeinsam schreiben, erarbeitete Glasner im echten Leben gemeinsam mit dem Komponisten Lorenz Dangel. Die beiden hatten vorher bereits für andere Filmprojekte wie „Landgericht“ oder „Blochin“ zusammengearbeitet, wollten für „Sterben“ jedoch noch einen Schritt weiter gehen. Rund zwei Jahre hat es gedauert, bis das Stück fertig war. „Ich wollte im Film zeigen, wie Kunst entsteht. All die Selbstzweifel und auch magischen Momente – von gescheiterten Proben bis zur emotionalen Premiere – all das ist jetzt auch im Film zu sehen“, sagt der 59-Jährige.
Gedreht wurde „Sterben“ im vergangenen Winter unter anderem rund drei Wochen in Hamburg und auch Schleswig-Holstein. Zu den Hauptschauplätzen gehörten das Areal um den Hamburger Hauptbahnhof (St. Georg), Altona und auch der Hamburger Kiez. „Da ich in Hamburg großgeworden bin, hatte ich schon eine konkrete Vorstellung von den Orten, die ich im Film haben will. Protagonistin Ellen hat ein Punk-Verständnis von Leben, und das wollte ich auch im Film zeigen“, so der Regisseur. Für ihn sei es wichtig, die Orte authentisch erzählen zu können. Und genau das war aufgrund seiner Ortskenntnis möglich in der Hansestadt. So fanden die urbanen und etwas dreckigeren Ecken der Stadt den Weg in den Film. Selbst die älteste Zahnarztpraxis Deutschlands, die auf dem Kiez zu finden ist, hat im Film einen Gastauftritt.
Ein weiteres Highlight von „Sterben“ ist mit Sicherheit der Cast. Matthias Glasner hat es irgendwie geschafft, zahlreiche der aktuell größten deutschen Schauspieler*innen in seinem Film unterzubringen. Mit dabei sind Lars Eidinger, Corinna Harfourch, Lilith Stangenberg, Saskia Rosendahl, Robert Gwisdek, Roland Zehrfeld und Anna Bederke. Und man kann wirklich sagen: Jede Rolle passt. Wenn man Matthias Glasner nach seiner Lieblingsszene im Film fragt, kann er trotzdem schnell antworten: „Es gibt im Film eine lange Aussprache zwischen Lissy Lunies und ihrem Sohn Tom. Und was Corinna Harfourch und Lars Eidinger da abgeliefert haben, ist wirklich unglaublich. 25 Minuten, zwei Kameras, eine Einstellung. Ich schreibe gerne Szenen, die erstmal unspielbar erscheinen. Doch die beiden haben alle meine Erwartungen übertroffen“, sagt Glasner.
Da ist es natürlich schwer, auszusortieren. Die Rohfassung des Films war rund 5 ½ Stunden lang. Am liebsten hätte der Regisseur drei Filme daraus gemacht – einen über die Mutter und jeweils einen über ihre beiden Kinder Tom und Ellen. Doch am Ende konnte das Epos auf drei Stunden verdichtet werden – und das Ergebnis gibt es am 18. Februar um 18 Uhr im Berlinale Palast zu bestaunen. „Es war mein Traum, dass er im Wettbewerb der Berlinale läuft. Mehr noch als bei meinen anderen Filmen, da er in großen Teilen Autofiktion ist. Ich hatte jedoch Angst, dass mein eigener Kram niemanden interessiert."
Diese Angst wird spätestens bei der Berlinale verflogen sein.